Gleich vorweg: ich habe gar nichts gegen Neuweltfilme. Genausowenig habe ich etwas gegen Neuweltaffen, Neuweltmäuse, Neuweltkamele und Neuweltmenschen. Ich möchte auf Kapuzineräffchen, Südamerikanische Riesenratten, Lamas und US-Amerikaner keineswegs verzichten. Sie gehören alle zu Gottes Schöpfung und tragen dazu bei, sie bunter und schöner zu machen. Und der US-amerikanische Film hat in den letzten hundert Jahren erstaunliches hervorgebracht – wahrscheinlich erstaunlicheres als das Filmschaffen aller anderen Nationen zusammen. Ich habe vom Neuweltfilm sehr viel gelernt – als Künstler und als Mensch.
Dennoch kann und will ichs nicht leugnen: ich bin ein Altweltmensch. Darum habe zu Altweltaffen, Altweltmäusen, Altweltkamelen und Altweltfilmen nochmal einen ganz anderen und besonderen Bezug.
Mag ein Kapuzineräffchen noch so putzig und exotisch sein – der Pavian begleitet meine Kultur schon seit der Antike. Mag die Südamerikanische Riesenratte noch so gewaltig daherkommen – unsere kleine Hausmaus kenne ich aus eigener Anschauung. Mag das Lama noch so eindrucksvoll spucken – unser altbekanntes Kamel, das durch kein Nadelöhr passt, führte schon vor 2000 Jahren unser Erlöser im Munde.
Gestern habe ich den Film Nostalghia von Andrei Tarkowski gesehen. Nun halte ich Tarkowski sowieso für einen der altweltlichsten Filmemacher des 20. Jahrhunderts. Eine Sache ist mir aber speziell aufgefallen, die ich früher auch schon in Leni Riefenstahls Debütfilm Das blaue Licht bemerkt hatte: Der Rhythmus des Films wird nicht – wie in nahezu allen amerikanischen Filmen – durch die Handlungen der Menschen bestimmt, sondern durch die Natur.
Globale Veränderungen treten bei Tarkowski z. B. ein, wenn es zu regnen anfängt, wenn Nebel aufzieht, wenn es brennt oder, wie ganz am Ende, wenn es zu schneien beginnt. In besonders intensiven Momenten treten konträre Naturereignisse auch simultan auf: Es regnet bei Sonnenschein, ein Schuppen brennt im Regen (ok, die Szene ist aus Solaris), ein Buch brennt, auf der Erde liegend, am Ufer eines warmen, dampfenden Heilbads – in diesem Fall sind alle vier Naturelemente im Bild vereint.
Bei Leni Riefenstahl ist der Rhythmus von Tag und Nacht formbildend – insbesondere der mehrfache schnelle Einbruch der Nacht, unterstützt durch geheimnisvolle Gongschläge und den Aufgang des Vollmonds: nicht so vielschichtig wie bei Tarkowski, aber deshalb keineswegs weniger eindringlich.
Die Natur ist größer als die Menschen. Die Natur war lange vor uns und wird jeden von uns lange überdauern. Das menschliche Handeln ist im letzten Sinne nicht entscheidend. Wir können machen, was wir wollen – größer ist das, was uns widerfährt und wogegen wir nichts machen können. Die Welt wird sich nie ändern, und wir können nur sehen, das beste draus zu machen – oder auch nicht.
Diese Weltsicht ist sehr altweltlich. Sie ist 3000 Jahre Kulturgeschichte abgerungen – und führt uns oft dazu, Amerikaner für naiv zu halten in ihrem ungebrochenen Enthusiasmus, die Welt ändern und verbessern zu können. Im amerikanischen Film spiegelt sich dieser Enthusiasmus. Selbst wenn Menschen scheitern, selbst wenn es zur Katastrophe kommt und zur Resignation, liegt es immer an den Menschen – und seis am Menschen schlechthin, an der condition humaine. Es liegt nie an der Natur, es liegt nie an dem, was nicht der Mensch ist.
Mir fällt dazu das Ende des Films “…denn sie wissen nicht, was sie tun” ein. Es ist ein sehr beeindruckendes Ende. Auch hier scheitern die Protagonisten. James Dean gelingt es nicht, dem Zynismus der desillusionierten Halbstarken eine Insel von Liebe und Freundschaft abzuringen. Einzig sein jugendlicher Bewunderer Plato wird sein Freund. Nach einer Weile führen die beiden einen erratischen Dialog. Plato fragt James Dean: “Do you think the end of the world will come at nighttime?” – James Dean knapp: “At dawn.” – In der Schlussszene wird Plato von der Polizei erschossen. Musik brandet auf, und die Kamera schwenkt in die Totale. Ein Himmelstreif kommt ins Blickfeld. Die Morgendämmerung hat begonnen.
Es ist ein ähnlich intensives Naturbild wie bei Tarkowski und Riefenstahl und bedeutet doch etwas völlig anderes. Das Naturereignis ist hier eine überhöhende Illustration des menschlichen Versagens. Der Mensch aber ist und bleibt das handelnde Subjekt. Bei Tarkowski hingegen ist die Natur die Handelnde.
Ich bin weit entfernt, eins gegen das andere ausspielen zu wollen. Beide Weltsichten haben ihre Berechtigung. Beide Weltsichten sind auch zutiefst im Christentum verankert – es ist ja gerade das einzigartige unseres Glaubens, dass er von den beiden Extremen fatalistischer Gleichgültigkeit einerseits, utopisch-ideologischer Veränderungshybris andererseits die gleiche Distanz hält. Wir können das Reich Gottes nicht selbst errichten, und doch müssen wir jeden Tag dazu beitragen, es zu errichten. Wenn wir scheitern, scheitern wir gleichermaßen als Handelnde, die nicht zwingend scheitern müssten, wie auch als Ausgelieferte, die auf Erden prinzipiell und immer scheitern. In jedem von uns ist gleichermaßen Tarkowski und James Dean, jeder von uns vollführt ständig einen waghalsigen Trapezakt auf dem Weltenseil, das sich von Moskau nach Hollywood spannt.
Allein – und deswegen ergreife ich hier und heute Partei für Moskau: das Seil ist nicht mehr gleichmäßig gespannt. Hollywood und der Neuweltmensch ziehen ungleich stärker daran. Der Einfluss der USA auf Europa war im 20. Jahrhundert so unglaublich stark, dass uns das Vertrauen in die Macht des menschlichen Handelns ungleich vertrauer ist als den Amerikanern das Gefühl von Unabänderlichkeit, Ausgeliefertsein, Widerfahrnis und Tragik. Hier müssen wir uns auf unsere Tradition – von Aischylos bis Tarkowski – besinnen. Den Gedanken wachhalten, dass eben nicht alles machbar ist: nicht der Glaube, nicht die Liturgie, nicht die perfekte Friedensordnung, nicht die perfekte Gesellschaft, nicht der perfekte Illusionismus der Popkultur.
Das ist die Verantwortung unserer 3000jährigen Geschichte. Dazu wird man Europa auch im dritten Jahrtausend noch brauchen.