Nach meinem vorletzten Post entspann sich eine kleine Diskussion mit Bloggerkollege Le Penseur, die sich hinterher noch per Mail fortsetzte und in deren Verlauf er mir, nach Anhören meiner Musik, frei nach Kaiser Joseph II. den Rat gab: “Etwas mehr Konsonanzen, Herr Kollege, etwas mehr Konsonanzen…”
Nun bin ich ja der Ansicht, dass es für den ästhetischen Charakter einer Komposition aufs musikalische Material recht wenig ankommt: anders gesagt, man kann auch dissonant konsonant oder konsonant dissonant komponieren. Als gegenaufklärerischen Gewährsmann zu Joseph II. & Collegen möchte ich daher heute Jacobus Clemens non Papa ins Feld führen, den letzten vortridentinischen Komponisten: einen Extremisten der Konsonanz.
Seine oben zu hörende achtstimmige Motette “Pater peccavi” stammt aus dem Jahr 1555 – dem gleichen Jahr, in dem Palestrina seine berühmte “Missa Papae Marcelli” verfasste. Doch welch ein Unterschied! Während Palestrinas Kultmesse den rigiden Geist der tridentinischen Reform vorstellt, verkörpert die Motette des um eine Generation älteren Clemens die letzte Verästelung des vortridentinischen Wildwuchses, einer liturgischen Wunderwelt voller Tropierungen und Eigenriten, voller Oster- und Fastnachtsspiele, Bußbruderschaften, Gaukler und Scharlatane…
Clemens non Papa gehört der sogenannten “vierten Generation” der Niederländischen Vokalpolyphonie an – ein Begriff, mit dem man, grob gesagt, die gesamte europäische Musik von ca. 1420 bis 1600 bezeichnet, deren wichtigste Gestalten mehrheitlich Niederländer und Nordfranzosen waren (die Hauptvertreter nach Generationen geordnet: 1. Guillaume Dufay, 2. Johannes Ockeghem, 3. Josquin Desprez, 4. Nicolas Gombert, 5. Palestrina).
Die vierte Generation führt nun einige Neuerungen ein. Vor allem ist sie die erste Generation überhaupt, die konsequent die Zahl der Gesangsstimmen auf sechs, acht oder gar zwölf Stimmen erhöht – vorher war die Vierstimmigkeit die Norm. Damit einher geht eine bisher ungekannte klangliche Fülle – im Gegenzug geht so einiges an struktureller Komplexität verloren. Während radikale Konstruktivisten wie Ockeghem komplexe Spiegel-, Krebs- und Zirkelkanons komponiert hatten, lassen Gombert und Clemens einfach hemmungslos den Klang strömen.
Jacobus Clemens non Papa ist gegenüber seinem Zeitgenossen Gombert der zwar unbekanntere, dafür aber radikalere Komponist. Er vereinfacht und uniformiert den musikalischen Satz weitaus stärker. Es gibt bei ihm fast keine Pausen mehr, fast keine einstimmigen Neuansätze mit folgender Imitation, wie sie bei den Niederländern sonst üblich sind, der Tonraum ist bei ihm fast durchgehend in seiner kompletten Ausdehnung präsent, die Quinte c schließt ihn über lange Strecken nach oben ab. Das klangliche Resultat ist daher erstaunlich homogen, was noch dazu durch die Melodik verstärkt wird, die sich gerne sprungweise aufwärts bewegt, um anschließend stufenweise abzusteigen – dadurch herrscht ein fließender, bruchloser, ständig sanft abfallender Duktus vor.
Dialektik, Relativierung, Kontraste, alles, was die Aufklärer lieben, gibt es bei Clemens nicht. Die Distanz zu Beethoven ist unendlich.
Und dann der gegenaufklärerische Hammer.
Zwei Teile.
Zwei? Der gute Dialektiker erwartet doch drei Teile. Fehlt die Synthese? Weit gefehlt! Es fehlt die Antithese.
Die zwei Teile sind – ähnlich. Bei 4’52 gibt es die einzige Pause im Stück, den einzigen einstimmigen Neuansatz. Was folgt, ist ein zweiter Teil, ähnlich lang wie der erste, ähnlich strukturiert, von den Noten her unterschiedlich, aber ähnlich klingend. Völlig überflüssig, würde der Aufklärer meinen. Der Gipfel der Impertinenz schließlich: die beiden Teile hören gleich auf! Irgendwann, so ca. 25 Takte vor Schluss, mogelt sich der zweite Teil wieder in den Notentext des ersten rein. Aber nicht als fulminante Reprise, nicht mit dem beethovenschen Paukenschlag siegreicher Dialektik: voilà, es ist überwunden, die Gegensätze sind versöhnt, die Ketten gesprengt, das aufblitzende Licht der menschlichen Vernunft erringt die Synthese! – nein, völlig unmerklich, beiläufig, mit einem jenseitig-fatalistischen Einschlag: ja mei, es ist halt eh alles gleich, die Gnade Gottes ist unendlich, das fließende Licht des Himmelreichs zeitlos, es könne ewig so weitergehen, oder auch nicht, oder doch, oder nicht, egal.
Kurze Zeit nach der Vollendung des “Pater peccavi” starb Clemens non Papa im flämischen Dixmuiden. Er war einer der wenigen Komponisten seiner Zeit, die nie Italien besucht hatten. In Rom wurde unterdessen dem Extremismus der Garaus gemacht – mit dem gestrengen Palestrina zogen Maß und Vernunft in die Kirchenmusik ein. Keine fünfzig Jahre später sollte ein anderer Italiener, ein junger Wilder namens Monteverdi, einen der größten Umstürze der Musikgeschichte anzetteln. Monteverdi war ein Extremist der Dissonanz, ein Extremist des Subjekts, ein Extremist des Gefühls. “Maß” gab es bei ihm auch, waren doch der Mensch und seine Affekte das alleinige Maß der Kunst! War der maßvolle Palestrina also sein Steigbügelhalter?
Fakt ist, dass sich die Kirchenmusik von dieser subjektiven Revolution nie wieder erholt hat. Pater, peccavi, dixit musica, in cælum, et coram te: jam non sum digna vocari filia tua.